In vielen Fällen behandelt das Finanzamt einen Sachverhalt über Jahrzehnte hinweg gleich – doch was passiert, wenn es plötzlich seine Auffassung ändert? Kann man sich dann auf Vertrauensschutz im Steuerrecht berufen? Die Praxis zeigt: Das ist selten erfolgreich.
Wenn langjährige Steuerpraxis plötzlich nicht mehr zählt
Es ist kein Einzelfall: Ein Steuerpflichtiger verlässt sich auf die bisherige Veranlagungspraxis, und plötzlich ändert das Finanzamt seine Sichtweise – obwohl weder das Gesetz geändert noch ein höchstrichterliches Urteil ergangen ist. Hier stellt sich die zentrale Frage: Gilt in solchen Fällen Vertrauensschutz im Steuerrecht?
Zwar ist der Grundsatz von Treu und Glauben ein anerkannter Rechtsgedanke (§ 242 BGB) und wurde vom Bundesfinanzhof (BFH) bereits 1989 ausdrücklich im Steuerrecht bestätigt (BFH, Urteil vom 09.08.1989, I R 181/85, BStBl 1989 II S. 990). Dennoch sind die Hürden für eine erfolgreiche Berufung auf diesen Grundsatz hoch. In dem genannten Urteil wiesen die Richter ausdrücklich darauf hin, dass aus dem Prinzip allein kein Vertrauensschutz im Steuerrecht abgeleitet werden kann.
Abschnittsbesteuerung schlägt Treu und Glauben
Ein zentrales Argument der Finanzverwaltung ist das Prinzip der Abschnittsbesteuerung: Danach wird jede Steuererklärung als eigenständiger Veranlagungszeitraum behandelt. Das bedeutet, dass das Finanzamt jährlich neu prüft – unabhängig von früheren Bewertungen (BFH-Beschluss vom 02.08.2004, IX B 41/04).
Beispiel: Wird in einem Jahr die doppelte Haushaltsführung anerkannt, kann sie im nächsten Jahr durch einen anderen Sachbearbeiter aberkannt werden, weil er die Entfernung zwischen Wohnsitzen als zu gering einschätzt. Vertrauensschutz im Steuerrecht greift hier in der Regel nicht.
Auch Urteile wie die des FG Niedersachsen (Urteil vom 20.03.2019, 9 K 125/18) oder FG München (Urteil vom 19.10.2017, 7 K 3429/16) bestätigen, dass frühere Praxis nicht automatisch einen Anspruch auf gleichbleibende Behandlung schafft.
Aktueller Fall: 40 Jahre Witwengeld – und plötzlich alles steuerpflichtig?
Ein aktueller Fall, der derzeit beim BFH anhängig ist (Az. VIII R 34/24), bringt das Thema Vertrauensschutz im Steuerrecht erneut in den Fokus. Eine Frau erhielt über vier Jahrzehnte Witwengeldzahlungen, die vom Finanzamt als Renteneinkünfte behandelt wurden. Doch bei der Steuerveranlagung 2018 wurde plötzlich anders entschieden: Die Zahlungen seien nun als nachträgliche freiberufliche Einkünfte ihres verstorbenen Mannes gemäß § 24 Nr. 2 EStG i.V.m. § 18 EStG einzustufen – und somit voll steuerpflichtig.
Die Klage gegen diese Entscheidung blieb erfolglos. Die jahrzehntelange Verwaltungspraxis schützte die Klägerin nicht – mit Hinweis auf das Prinzip der Abschnittsbesteuerung. Der wirtschaftliche Zusammenhang der Witwengeldzahlungen mit der früheren Zahnarzttätigkeit ihres Mannes reiche aus, um die steuerliche Neuqualifikation zu rechtfertigen.
Ausblick: Was wird der BFH entscheiden?
Der BFH muss nun klären, ob das bloße Prinzip der Abschnittsbesteuerung tatsächlich ausreicht, um eine 40-jährige Verwaltungspraxis zu kippen – oder ob es im konkreten Fall nicht doch Vertrauensschutz im Steuerrecht geben muss. Das vorinstanzliche Urteil des FG Düsseldorf vom 10.11.2023 (3 K 1608/21 E) ließ keinen Zweifel: Der Vertrauensschutz wurde abgelehnt.
Betroffene sollten vergleichbare Fälle vorerst offenhalten und sich auf das laufende Verfahren beziehen. Eine Entscheidung des BFH könnte künftig Klarheit schaffen – oder die restriktive Linie bestätigen.